Geschichten gegen die Angst / zu Hans Blumenberg

(von Gerald Beyrodt)
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Götter als Wolkenschieber könnten auf unsere Vorfahren eine beruhigende Wirkung gehabt haben. (Stock.XCHNG / Michael Bretherton)

Warum erzählen Menschen Geschichten? Der Philosoph Hans Blumenberg sagt: Um sich gegen die Welt zur Wehr zu setzen. Als die Menschheit entstand, waren die Geschichten lebensnotwendig. Denn als der Mensch oder ein Vorfahr des Menschen den Urwald verließ, war er von Feinden umgeben. Er war nicht schnell und nicht kräftig, konnte nicht so gut flüchten wie andere Tiere und nicht so gut jagen. Obendrein plagten ihn Ängste. Kurzum, der Mensch war ein „Mängelwesen“, wie Blumenberg sagt.
Kulturelle Anpassungen an die Umwelt – zum Beispiel durch Faustkeil und Speer – boten die Möglichkeiten zum Überleben. Eine kulturelle Anpassung ist auch die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Denn der Mensch bannt seine Angst vor den Urgewalten der Natur, indem er ihnen Namen gibt.
„Ein Mensch zu sein, heißt Existenzangst zu haben. Am Anfang ist diese Existenzbedrohung oder diese Angst ohne Objekt, das heißt, man hat Angst, aber kein Objekt der Angst. Geschichten zu erzählen, Götter zu haben, Mythen zu haben, bedeutet dann in dieser Hinsicht, Objekte zu schaffen, fiktive Objekte zu schaffen, durch welche diese Angst (gemildert) werden kann.“

Wenn etwa das Meer bedrohlich tobt, dann erzählen die Menschen Geschichten vom Gott des Meeres, der wütend sei. Der Mensch gibt den Naturgewalten Namen und fühlt sich ihnen nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Denn wenn der Gott des Meeres wie ein Mensch wütend sein kann, dann kann man ihn auch wie einen Menschen besänftigen. „Terror“ und „Spiel“ sind Kernbegriffe von Blumenbergs Mythos-Theorie. Am Anfang steht nach Hans Blumenberg der Schrecken. Dieser Schrecken ist so groß, dass es dafür keine Worte gibt. Schon die ersten Mythen sind Widerstand gegen den Schrecken. Jetzt hat der Schrecken Namen: Zeus und Hera, Dionysos und Aphrodite. Die Dichter der Antike und ihre Nachfolger wandeln die Göttergeschichten ab und spielen mit ihnen. Die Geschichte der Mythenbearbeitung ist nach Blumenberg eine Geschichte der Depotenzierung, d.h. von (den Geschichtenerzählern) Homer bis (z.B.) James Joyce wird das Fürchterliche immer zahnloser. Auch Technik und Kultur dienen für Blumenberg dazu, uns von der Welt unabhängiger zu machen, uns die Naturgewalten vom Leib zu halten. Das war schon so, als Faustkeil und Speer erfunden wurden.