G.W.F. Hegel, Der Mohammedanismus

aus: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Wintersemester 1825/26 , Berliner Kollegien (G.W.F. Hegel, Theorie Werke 12, Ffm. 1973, S. 428-434)

Während auf der einen Seite die europäische Welt sich neu gestaltet, die Völker sich darin festsetzen, um eine nach allen Seiten hin ausgebildete Welt der freien Wirklichkeit hervorzubringen, und ihr Werk damit beginnen, alle Verhältnisse auf eine partikulare Weise zu bestimmen und mit trübem, gebundenem Sinne, was seiner Natur nach allgemein und Regel ist, zu einer Menge zufälliger Abhängigkeiten, was einfacher Grundsatz und Gesetz sein sollte, zu einem verwickelten Zusammenhang zu machen, kurz während das Abendland anfängt, sich in Zufälligkeit, Verwicklung und Partikularität einzuhausen; so mußte die entgegengesetzte Richtung in der Welt zur Integration des Ganzen auftreten, und das geschah in der Revolution des Orients, welche alle Partikularität und Abhängigkeit zerschlug und das Gemüt vollkommen aufklärte und reinigte, indem sie nur den abstrakt Einen zum absoluten Gegenstande und ebenso das reine subjektive Bewußtsein, das Wissen nur dieses Einen zum einzigen Zwecke der Wirklichkeit, – das Verhältnislose zum Verhältnis der Existenz –, machte.

Wir haben schon früher die Natur des orientalischen Prinzips kennen gelernt und gesehen, daß das Höchste desselben nur negativ ist, und daß das Affirmative das Herausfallen in die Natürlichkeit und die reale Knechtschaft des Geistes bedeutet. Nur bei den Juden haben wir bemerkt, daß sich das Prinzip der einfachen Einheit in den Gedanken erhoben hat, denn nur bei diesen ist der Eine, der für den Gedanken ist, verehrt worden. Diese Einheit ist nun in der Reinigung zum abstrakten Geiste geblieben, aber sie ist von der Partikularität, mit der der Jehovahdienst behaftet war, befreit worden. Jehovah war nur der Gott dieses einzelnen Volkes, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nur mit den Juden hat dieser Gott einen Bund gemacht, nur diesem Volke hat er sich offenbart. Diese Partikularität des Verhältnisses ist im Mohammedanismus abgestreift worden. In dieser geistigen Allgemeinheit, in dieser Reinheit ohne Schranken und ohne Bestimmung hat das Subjekt keinen andern Zweck als die Verwirklichung dieser Allgemeinheit und Reinheit. Allah hat den affirmativen beschränkten Zweck des jüdischen Gottes nicht mehr. Die Verehrung des Einen ist der einzige Endzweck des Mohammedanismus, und die Subjektivität hat nur diese Verehrung als Inhalt der Tätigkeit, sowie die Absicht, dem Einen die Weltlichkeit zu unterwerfen. Dieses Eine hat nun zwar die Bestimmung des Geistes, doch weil die Subjektivität sich in den Gegenstand aufgehen läßt, fällt aus diesem Einen alle konkrete Bestimmung fort, und sie selbst wird weder für sich geistig frei, noch ist ihr Gegenstand selber konkret. Aber der Mohammedanismus ist nicht die indische, nicht die mönchische Versenkung in das Absolute, sondern die Subjektivität ist hier lebendig und unendlich, eine Tätigkeit, welche ins Weltliche tretend dasselbe nur negiert und nur wirksam und vermittelnd auf die Weise ist, daß die reine Verehrung des Einen existieren soll. Der Gegenstand des Mohammedanismus ist rein intellektuell, kein Bild, keine Vorstellung von Allah wird geduldet: Mohammed ist Prophet, aber Mensch und über des Menschen Schwächen nicht erhaben. Die Grundzüge des Mohammedanismus enthalten dies, daß in der Wirklichkeit nichts fest werden kann, sondern daß alles tätig, lebendig in die unendliche Weite der Welt geht, so daß die Verehrung des Einen das einzige Band bleibt, welches alles verbinden soll. In dieser Weite, in dieser Macht verschwinden alle Schranken, aller National- und Kastenunterschied; kein Stamm, kein politisches Recht der Geburt und des Besitzes hat einen Wert, sondern der Mensch nur als Glaubender. Den Einen anzubeten, an ihn zu glauben, zu fasten, das leibliche Gefühl der Besonderheit abzutun, Almosen zu geben, das heißt, sich des partikularen Besitzes zu entschlagen: das sind die einfachen Gebote; das höchste Verdienst aber ist, für den Glauben zu sterben, und wer in der Schlacht dafür umkommt, ist des Paradieses gewiß.

Die mohammedanische Religion nahm ihren Ursprung bei den Arabern: hier ist der Geist ein ganz einfacher, und der Sinn des Formlosen ist hier zu Hause, denn in diesen Wüsten ist nichts, was gebildet werden könnte. Von der Flucht Mohammeds aus Mekka im Jahre 622 beginnt die Zeitrechnung der Mohammedaner. Noch bei Lebzeiten Mohammeds unter seiner eignen Führung und dann besonders nach seinem Tode unter der Leitung seiner Nachfolger haben die Araber diese ungeheuren Eroberungen gemacht. Sie warfen sich zunächst auf Syrien und eroberten den Hauptort Damaskus im Jahre 634; weiter zogen sie dann über den Euphrat und Tigris und kehrten ihre Waffen gegen Persien, das ihnen bald unterlag; in Westen eroberten sie Ägypten, das nördliche Afrika, Spanien und drangen ins südliche Frankreich bis an die Loire, wo sie von Karl Martell bei Tours im Jahre 732 besiegt wurden. So dehnte sich die Herrschaft der Araber im Westen aus, im Osten unterwarfen sie sich, wie gesagt, Persien, Samarkand und den südwestlichen Teil von Kleinasien nacheinander. Diese Eroberungen, wie die Verbreitung der Religion, geschehen mit einer ungemeinen Schnelligkeit. Wer sich zum Islam bekehrte, bekam völlig gleiche Rechte mit allen Muselmännern. Was sich nicht bekehrte, wurde in der ersten Zeit umgebracht; später verfuhren jedoch die Araber milder gegen die Besiegten, so daß diese, wenn sie nicht zum Islam übergehen wollten, nur ein jährliches Kopfgeld zu entrichten hatten. Die Städte, welche sich sogleich ergaben, mußten dem Sieger ein Zehntel alles Besitzes abgeben; die, welche erst genommen werden mußten, ein Fünftel.

Die Abstraktion beherrschte die Mohammedaner: ihr Ziel war, den abstrakten Dienst geltend zu machen, und danach haben sie mit der größten Begeisterung gestrebt. Diese Begeisterung war Fanatismus, das ist eine Begeisterung für ein Abstraktes, für einen abstrakten Gedanken, der negierend sich zum Bestehenden verhält. Der Fanatismus ist wesentlich nur dadurch, daß er verwüstend, zerstörend gegen das Konkrete sich verhält; aber der mohammedanische war zugleich aller Erhabenheit fähig, und diese Erhabenheit ist frei von allen kleinlichen Interessen und mit allen Tugenden der Großmut und Tapferkeit verbunden. La religion et la terreur war hier das Prinzip, wie bei Robespierre la liberté et la terreur. Aber das wirkliche Leben ist dennoch konkret und bringt besondere Zwecke herbei; es kommt durch die Eroberung zu Herrschaft und Reichtum, zu Rechten der Herrscherfamilie, zu einem Bande der Individuen. Aber alles dieses ist nur akzidentell und auf Sand gebaut, es ist heute, und morgen ist es nicht; der Mohammedaner ist bei aller Leidenschaft gleichgültig dagegen und bewegt sich im wilden Glückswechsel. Viele Reiche und Dynastien hat der Mohammedanismus bei seiner Ausbreitung begründet. Auf diesem unendlichen Meere wird es immer weiter, nichts ist fest; was sich kräuselt zur Gestalt, bleibt durchsichtig und ist ebenso zerflossen. Jene Dynastien waren ohne Band einer organischen Festigkeit, die Reiche sind darum nur ausgeartet, die Individuen darin nur verschwunden. Wo aber eine edle Seele sich fixiert, wie die Welle in der Kräuselung des Meeres; da tritt sie in einer Freiheit auf, daß es nichts Edleres, Großmütigeres, Tapferes, Resignierteres gibt. Das Besondere, Bestimmte, was das Individuum ergreift, wird von demselben ganz ergriffen. Während die Europäer eine Menge von Verhältnissen haben und ein Konvolut derselben sind, ist im Mohammedanismus das Individuum nur dieses, und zwar im Superlativ, grausam, listig, tapfer, großmütig im höchsten Grade. Wo Empfindung der Liebe ist, da ist sie ebenso rücksichtslos und Liebe aufs innigste. Der Herrscher, der den Sklaven liebt, verherrlicht den Gegenstand seiner Liebe dadurch, daß er ihm alle Pracht, Macht, Ehre zu Füßen legt und Szepter und Krone vergißt; aber umgekehrt opfert er ihn dann ebenso rücksichtslos wieder auf. Diese rücksichtslose Innigkeit zeigt sich auch in der Glut der Poesie der Araber und Sarazenen. Diese Glut ist die vollkommene Freiheit der Phantasie von allem, so daß sie ganz nur das Leben ihres Gegenstandes und dieser Empfindung ist, daß sie keine Selbstsucht und Eigenheit für sich behält.

Nie hat die Begeisterung als solche größere Taten vollbracht. Individuen können sich für das Hohe in vielerlei Gestalten begeistern; auch die Begeisterung eines Volkes für seine Unabhängigkeit hat noch ein bestimmtes Ziel; aber die abstrakte, darum allumfassende, durch nichts aufgehaltene und nirgend sich begrenzende, gar nichts bedürfende Begeisterung ist die des mohammedanischen Orients.

So schnell die Araber ihre Eroberungen gemacht hatten, so schnell erreichten bei ihnen auch die Künste und Wissenschaften ihre höchste Blüte. Wir sehen diese Eroberer zuerst alles, was die Kunst und Wissenschaft angeht, zerstören: Omar soll die herrliche alexandrinische Bibliothek zerstört haben. Entweder enthalten diese Bücher, sagte er, was im Koran steht, oder ihr Inhalt ist ein andrer, in beiden Fällen sind sie überflüssig. Bald darauf aber lassen es sich die Araber angelegen sein, die Künste und Wissenschaften zu heben und überall zu verbreiten. Zur höchsten Blüte kam das Reich unter dem Kalifen al-Mansur und Harun al-Raschid. Große Städte entstanden in allen Teilen des Reiches, wo Handel und Gewerbe blühten, prächtige Paläste wurden erbaut und Schulen eingerichtet, die Gelehrten des Reiches fanden sich am Hofe des Kalifen zusammen, und es glänzte der Hof nicht bloß durch die äußerliche Pracht der köstlichen Edelsteine, Gerätschaften und Paläste, sondern vorzüglich durch die Blüte der Dichtkunst und aller Wissenschaften. Anfangs behielten die Kalifen auch noch die ganze Einfachheit und Schlichtheit bei, welche den Arabern der Wüste eigen war (besonders wird der Kalif Abubekr in dieser Hinsicht gerühmt) und keinen Unterschied von Stand und Bildung kannte. Der gemeinste Sarazene und das geringste Weib ging den Kalifen wie seinesgleichen an. Die rücksichtslose Naivität bedarf der Bildung nicht; und jeder verhält sich durch die Freiheit seines Geistes zu dem Herrscher als zu seinesgleichen.

Das große Reich der Kalifen hat nicht lange bestanden, denn auf dem Boden der Allgemeinheit ist nichts fest. Das große arabische Reich ist fast um dieselbe Zeit zerfallen als das fränkische: Throne wurden durch Sklaven und neu hereinbrechende Völker, die Seldschucken und Mongolen, gestürzt und neue Reiche gegründet, neue Dynastien auf den Thron gehoben. Den Osmanen ist es endlich gelungen, eine feste Herrschaft aufzustellen, und zwar dadurch, daß sie sich in den Janitscharen einen festen Mittelpunkt bildeten. Nachdem der Fanatismus sich abgekühlt hatte, war kein sittliches Prinzip in den Gemütern geblieben. Im Kampfe mit den Sarazenen hatte sich die europäische Tapferkeit zum schönen, edlen Rittertum idealisiert; Wissenschaft und Kenntnisse, insbesondere der Philosophie, sind von den Arabern ins Abendland gekommen; eine edle Poesie und freie Phantasie ist bei den Germanen im Orient angezündet worden, und so hat sich auch Goethe an das Morgenland gewandt und in seinem Diwan eine Perlenschnur geliefert, die an Innigkeit und Glückseligkeit der Phantasie alles übertrifft. – Der Orient selbst aber ist, nachdem die Begeisterung allmählich geschwunden war, in die größte Lasterhaftigkeit versunken, die häßlichsten Leidenschaften wurden herrschend, und da der sinnliche Genuß schon in der ersten Gestaltung der mohammedanischen Lehre selbst liegt und als Belohnung im Paradiese aufgestellt wird, so trat nun derselbe an die Stelle des Fanatismus. Gegenwärtig nach Asien und Afrika zurückgedrängt und nur in einem Winkel Europas durch die Eifersucht der christlichen Mächte geduldet, ist der Islam schon längst von dem Boden der Weltgeschichte verschwunden und in orientalische Gemächlichkeit und Ruhe zurückgetreten.

In: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Leipzig, 1924

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